Kein Naserümpfen bei Milchschokoladen
Die aktuelle Tafelpost-Ausgabe “Auf der Milchstraße” ist den Milchschokoladen (und auch der Weißen Schokolade) gewidmet, da oft die Frage auftaucht, ob diese Tafeln denn gut sein können. Na aber ganz selbstverständlich! Denn auch diesen Tafeln wird in den Bean-to-Bar Manufakturen Aufmerksamkeit geschenkt und qualitätsvolle, bemerkenswerte Schokolade hergestellt. Die folgende geschichtliche und genüssliche Einordnung von Milch- und Weißer Schokolade möchte jenen Freude machen, deren süßgestimmter, sanftmütigerer Gaumen besonderen Geschmack erleben möchten, soll aber auch eine horizonterweiternde Wirkung bei den herb-geneigten Schokoladenfreund:innen entfalten.
Die Geschichte und ihre Folgen
Im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte haben sich Milchschokoladentafeln, vor allem aus den großen Häusern, als Alltagslebensmittel etabliert. Es sind Milchschokoladenprodukte, mit denen schon von klein auf um die Gunst der Konsument:innen geworben wird. Sicherlich taucht Schokolade recht schnell im Gedächtnis auf, wenn man sich seinen Kindheitserinnerungen zuwendet — sei es ein im ganzen Gesicht verschmiertes Schokoladeneis, die Ostereier-Suche, wo es ja vielmehr um die formschön gegossenen Schokoladenhäschen ging, oder die lila verpackten, mit Kühen bebilderten, mit berühmten Kindergesichtern versehenen und eingängigen Fernsehwerbungen umworbenen Süßigkeiten.
Die erste dokumentierte Zusammenführung von Milch und Kakao geht auf den britischen Naturforscher Sir Hans Sloane zurück, der im 17. Jahrhundert während seiner Jamaica-Reisen Kakao kennenlernte. In den Kulturen, die er besuchte, wurde Kakao als wasserbasiertes, mit Gewürzen versehenes Getränk konsumiert, und wurde unter anderem eingesetzt, um unterernährte und in schlechter Gesundheit befindliche Kinder aufzupeppeln. Er kam also auf die Idee, Kakao auch in Europa zu medizinischen Zwecken einzusetzen. In seinem Rezept wurde der Kakao allerdings mit Milch angerührt, um ihn weniger bitter und somit geschmacklich ansprechender zu machen. Im Heimatland fand sein Getränk schnell Anklang, wurde aber zu medizinischen Zwecken verkauft. Erst 1849 begann Cadbury (ebenfalls in England) heiße Schokolade kommerziell zu verkaufen, die mit Milch und Kakao angerührt wurde.
Der Übergang zu einer festen Milchschokolade erfolgte dann 1875 (die erste Schokoladentafel wurde 1847 vom englischen Unternehmen Fry & Sons vermarktet), als sich der Schweizer Schokoladenproduzent Daniel Peter das neu erfundene Milchpulver (vom Chemiker Henri Nestle) zu Nutze machte. Da Flüssigkeiten in der Schokoladenfertigung aufgrund des hohen Fettanteils der Kakaobohnen nicht eingesetzt werden können (die Masse würde sich in Fest- und Flüssigbestandteile trennen), fand das eigentlich für Babynahrung entwickelte Milchpulver also ein zweites Einsatzgebiet. Denn Daniel Peter stellte aus pulverisiertem Kakao und Milchpulver unter der Zugabe von Kakaobutter die erste Milchschokoladentafel her. Diese grundlegende Entwicklung besiegelte die Kommerzialisierung von Schokolade endgültig. In den kommenden Jahrzehnten begannen sich Schokoladenhersteller zu etablieren, deren Namen bis jetzt im Supermarktregal anzutreffen sind.
Weiße Schokolade wurde 1936 vom Hause Nestlé am Markt unter ihrer Marke „Milkybar“ (die es immer noch gibt, in manchen Ländern heißt sie auch „Galak“) eingeführt, und hat eine durchaus interessante Geschichte (Notiz: ob Weiße Schokolade von Nestlé erfunden wurde, kann nicht endgültig festgestellt werden, aber man weiß, dass sie die ersten waren, die sie in Kontinentaleuropa bewarben und verkauften). In den 1930er-Jahren haben Nestlé und das Pharmazie-Unternehmen Roche das Vitamin-Supplement „Nestrovit“ für Kinder entwickelt. Diese Vitamine mussten speziell beschichtet werden, um sie stabil zu machen. Nestlé setzte dafür Kakaobutter, Zucker und Milchpulver ein. Und ganz nebenbei wurde dafür auch aus den überschüssiges Milchpulver aus den Kriegsjahren verwertet. Die Erkenntnisse aus Nestrovit abzüglich der beigefügten Vitamine entwickelte Nestlé rasch weiter zum Schokoladenprodukt „Milkybar“ — die Weiße Schokolade war erfunden.
Die Industrie und ihre Laster
Warum Milchschokoladentafeln einen derartigen Erfolgszug zu verzeichnen hat und Massen in ihrem Bann hält, hat damit zu tun, dass sie den sogenannten „bliss point“ erfüllen. Diesen Glückspunkt, wie er ins Deutsche übersetzt wurde, hat Marktforscher Howard Moskowitz in den 1950er-Jahren für die Lebensmittelindustrie beschrieben, und in der Entwicklung von Produkten (ursprünglich gedacht, um Army-Soldaten dazu zu bringen, ihre eintönigen Fertigmahlzeiten aufzuessen) eingesetzt. Die Rezepturen von industriell hergestellten Lebensmittel folgen dem Glückspunkt-Prinzip, das die Kombination von Fett, Zucker und Salz sowie bestimmte Mundgefühle (zum Beispiel knusprig wie bei Chips oder satt schmelzend wie bei Eiscreme) beschreibt, die das Sättigungsgefühl ausschaltet. Dopamine werden ausgeschüttet und lassen nach „mehr“ verlangen. In den allermeisten Rezepten von Milchschokoladen, insbesondere den billigen, ist daher zusätzlich zum (übermäßigen) Zucker und Kakaobutter auch Salz zu finden. Und diese süßen, geschmacklich runden und ansprechend schmelzenden Tafel zu portionieren fällt vielen Menschen schwer. Der Blick auf die Verpackung verrät, dass Kakao eine Nebenrolle spielt, weil Industrieschokolade vorwiegend aus Zucker, Fetten und Zusatz-, Füll- und Aromastoffen besteht. Konsument:innen vertilgen diese Süßwaren en masse und sind mit den körperlichen Konsequenzen konfrontiert. Dass der übermäßige Verzehr von Zucker mit Übergewicht, Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten und allerhand mehr in Zusammenhang steht, ist weitläufig bekannt und wissenschaftlich bewiesen.
Die Industrieschokolade hat eine Marketingmaschinerie an ihrer Seite: Werbeslogans sind eingängig, Schokoladenprodukte werden zu jedem Feiertag und allen Anlässen umworben, Supermarktkassen sind gesäumt mit Süßigkeiten. Ein interessantes Beispiel an gekonntem Marketing um für Aufmerksamkeit und Profit zu sorgen, hat der Schokoladengigant Barry Callebaut hervorgebracht, als 2017 die „Ruby Chocolate“ als den vierte Schokaladenvariante (nach dunkel, Milch und weiß) vorgestellt wurde. Das hat etwa nichts mit einer besonderen Sorte von Kakao zu tun, sondern mit einem patentierten Verarbeitungsprozess. Kurz umrissen kommt die rosa Farbe der Schokolade zustande, weil die Kakaobohnen nicht fermentiert und zusätzlich chemisch behandelt werden. Dadurch entsteht ebenfalls kein typisches Kakaoaroma sondern eines mit „intensiver Fruchtigkeit“ und „frischen sauren Noten“, ohne dabei Farbstoffe oder Fruchtaromen zu beinhalten. Diese „funkelnde Sensation“ ist laut eigener Aussage des Unternehmens vor allem für die Vermarktung an Millenials, die „gesundheitsbewusst leben“ und auf der Suche nach „hedonistischen Genüssen“ sind, entwickelt worden. Diese explizite Darstellung der Beweggründe bedarf keiner weiteren Kommentierung.
Dass sich die Schweiz aufgrund ihrer wichtigen Erfindungen, die die Schokoladenindustrie bis heute prägen, und der vielen berühmten Manufakturen hartnäckig als quasi Qualitätsgarant einzementiert hat, sollte ebenfalls kritisch hinterfragt werden. „Schweizer Schokolade“ ist zwar ein geschützter Begriff, besagt aber nur, dass die Schokolade auch dort hergestellt werden muss. Berühmte Häuser wie Lindt, Ovomaltine oder Toblerone sind Fertiger von Industrieware, die auf Massenkonsum abzielen und billige Ware mit Goldfolie und roten Glöckchen vermarkten. Was übrig bliebt ist, dass Schokolade aus der Schweiz sich durch geschicktes Marketing und als geflügelter Begriff ins Konsument:innengedächtnis einindoktriniert hat.
(Schmunzelnde Randnotiz: Toblerone darf aufgrund der Verlagerung der Produktion in die Slowakei das Matterhorn nicht mehr auf der Verpackung anführen. Das Swissness-Gesetz unterbindet es nämlich, dass Werbung für „Schweizer“ Produkte gemacht wird, wenn nicht mindestens 80% der Rohstoffe aus der Schweiz stammt und der überwiegende Anteil der Fertigung auch im Land erfolgt).
Die Tafeln und ihre Formen
Verwendet wird, wenn nicht anders angeführt, in den Tafeln pulverisierte Kuhmilch. Allerdings finden auch alternative Formen ihren Weg auf den Markt, etwa Milchsorten verschiedenen tierischen Ursprungs wie Ziegen-, Schaf-, ja sogar Kamelmilch, ebenso vegane Milchformen, insbesondere Hafer- und Kokosmilch.
Es lohnt sich auch auf die prozentuellen Angaben zu achten, Milchschokolade ist von blond bis herb-dunkel erhältlich (die Prozentangaben beziehen sich da jedoch auf die Kakaobohnen und die verwendete Kakaobutter, nicht auf das Milchpulver). Und auch in Bezug auf den Zucker gibt es vieles unterschiedliches und neues, beispielsweise gänzlich zuckerfreie Tafeln, die sich die Süße des Milchpulvers zu Nutzen machen, oder auf Süße von Dattel-, Kokosblüten- oder Ahornzucker zugreifen.
Die Verwendung von diesen anderen, eben nicht gewohnten und gewöhnlichen Milch- und Zuckerformen bringt immer ihre eigenen Aromen mit und erweitert und ergänzt wunderbar den Schokoladenhorizont.
Weil keine Kakaobohnen zum Einsatz kommen, sondern neben Zucker, Milchpulver, Lecithinen und meistens zusätzliche Aromastoffe wie Vanillin lediglich Kakaobutter, haben die Tafeln keine braune Färbung, ist Weiße Schokolade eben nicht braun gefärbt. In hochwertiger Schokolade wird mit undeodorisierter Kakaobutter gearbeitet, da dieses naturgemäß ein komplexeres Aroma hat, als das herkömmlich verwendetet neutralisierte.
Einen besonderen Nachteil gegenüber dunklen Schokoladen haben Milchtafeln in Bezug auf ihre Haltbarkeit. Während reinsortige dunkle Tafeln, die nur Kakaobohnen (und -butter) und Zucker verwenden, richtig verpackt und gelagert mehrere Jahre halten, kann das enthaltene Milchpulver aber schlecht werden und führen zu einer im Vergleich kurzen Haltbarkeit. Ein Geruchs- und Sehtest bei einem überschrittenen Haltbarkeitsdatum schafft rasch Klärung, aber Milch- und Weiße Schokoladen sollten doch eher rasch konsumiert werden.
Die bean-to-bar Manufakturen und ihre Hoffnungen
Craft chocolate Hersteller:innen orientieren sich natürlich an den Vorlieben und Gewohnheiten der Konsument:innen und erschaffen daher auch ansprechende, überzeugende und hochwertige Milch- und Weiße Schokoladen. Die Qualität der Kakaobohnen und ein deutliches Aromaprofil spielen eine wesentliche Rolle. Der spezifische Charakter der Kakaobohnen steht im Zentrum und wird durch das Milchpulver und den Zucker nicht tot gesüßt, sondern fein abgerundet. Es gibt in diesen Tafeln sehr viel Vielfältigkeit und Genusspotential zu entdecken.
Zusätzlich zu den in dieser Ausgabe enthaltenen und später noch beschriebenen Tafeln seien die folgenden Schokoladen lobend erwähnt:
Milchschokoladen
Zotter 80% / 20% superdunkel
Original Beans Femmes de Virunga
Heinde & Verre Vegan Noble Bali Mylk
Tosier Dark Mylk with Toasted Buckwheat
Georgia Ramon Ziegenmilch
Chocolate Naive Kefir (auch im Tafelkuratorin-Shop erhältlich)
Weiße Schokoladen
AHERZ Muzungu
Harrer Chocolat White chocolate with chamomile
Akesson’s White Chocolate
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei Milch- und Weißer Schokolade das gleiche gilt, wie bei dunkler Schokolade: es kommt auf die Qualität der Zutaten und die Fähigkeiten der Hersteller:innen an. Ein Nasenrümpfen ist bei diesen hochwertigen Tafeln aus diesen Manufakturen also gar nicht nötig.